Text von Barbara Leissing
Am 22. Mai 2005 ist Änne Salzmann gestorben, wenige Monate später wäre sie 100 Jahre alt geworden. Bis zu ihrem Lebensende hat sie in ihrem Häuschen in Offenbach-Waldheim gewohnt, das sie sich zusammen mit ihrem Lebensgefährten Karl Schild in den 1950er Jahren gebaut hatte, Der folgende Text ist einem Interview entnommen, das Werner Geprägs vom Arbeitskreis Stadtgeschichte-Arbeitergeschichte mit Änne 1983 führte. Nach ihrem Tod hat Kurt Nagel, der bei ihrer Beerdigung auch die Trauerrede hielt, den Text abgeschrieben und um aktuelle Angaben ergänzt:
Kindheit – Schule – Lehre
„Mein Vater Joseph Buchert ist in Dorndiel im Odenwald geboren. Nach der Lehre als Schuster ist er nach Offenbach gezogen. Er bekam in einer Schuhfabrik Arbeit und meine Mutter kennen, die auch aus einer Arbeiterfamilie kam. Bei Beginn seiner Arbeit in Offenbach trat mein Vater, er war 17 Jahre alt, in die Gewerkschaft der Schuhmacher ein.
Ich hatte zwei Geschwister, einen Bruder und eine Schwester.
Ich bin in die Volksschule gegangen, die ich mit 14 Jahren verließ. Während des Krieges war auch mein Vater eingezogen und meine Mutter hatte es nicht leicht mit drei Kindern. Sie musste von einer niedrigen Unterstützung leben, aber sie hatte das Talent, sich immer etwas dazu zu verdienen. Mein Vater kam am Kriegsende wieder nach Hause. Er bekam bei der Firma Wallerstein in Offenbach Arbeit in seinem Beruf und war im Betrieb aktiver Gewerkschafter.
Im Jahre 1920 begann meine Lehrzeit im gleichen Betrieb, in dem mein Vater arbeitete. Ich lernte Schärferin. Ich will noch erwähnen, dass der Betrieb Wallerstein hundertprozentig in der Gewerkschaft organisiert war. Durch meine Freundin Anni Weber kam ich zur Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und wurde dort Mitglied. Damals befand sich in der Herrnstraße ein Jugendhaus, in dem Räume für Jugendverbände der Arbeiterbewegung zur Verfügung standen, das ,Blaue Haus’. Besonders aktiv waren damals der Kommunistische Jugendverband (KJVD) und die syndikalistische Jugend. Ich stellte bald fest, dass die SAJ meinen Vorstellungen nicht ganz entsprach. Im Jahre 1922 trat ich aus diesen Gründen in den KJVD über. Der KJVD war auf politischem Gebiet sehr aktiv und besonders setzte er sich natürlich für die Fragen ein, die Jugendliche betrafen. Im Jahre 1923 wurde ich auch Mitglied bei den Offenbacher Naturfreunden. Dort waren auch viele Jugendliche, von denen nicht wenige in den verschiedenen politischen Jugendverbänden aktiv waren. Von den älteren Genossinnen und Genossen der Naturfreunde habe ich und andere sehr viel gelernt, weil viele Naturfreunde politisch aktiv waren in Parteien und Gewerkschaften. Der im KJ AD sehr aktive Adolf Schüttler gründete das war sicher die erste in ganz Hessen damals – eine Gruppe der Jungen Pioniere. Ich erinnere mich an einen Besuch des Genossen Willi Münzenberg in Offenbach, das war für uns ein Ereignis Damals fanden öfters Treffen der Jugend in Offenbach statt, wir nahmen auch an hessischen und Reichstreffen des Jugendverbandes teil, das waren immer eindrucksvolle Erlebnisse. Einfach war das oft nicht, denn der Jugendverband war damals natürlich schon Zielscheibe von Angriffen politischer Gegner von rechts. Auch das Verbot der KPD im Jahre 1923 machte uns schon zu schaffen, aber wir überstanden diese Zeit. Bei Wallerstein habe ich bis 1928 gearbeitet. Um diese Zeit trat ich dann auch in die KPD ein, eigentlich wäre ich viel lieber bei der Jugend geblieben. Im gleichen Jahr habe ich den Kreuznacher Genossen Hugo Salzmann geheiratet und bin nach Kreuznach verzogen. Meine Ehe war nicht von langer Dauer, 1930 trennte ich mich von Hugo Salzmann und zog nach Frankfurt am Main. Ich bekam dort schnell Kontakte zur KPD und arbeitete in der Partei aktiv mit, damals wuchs ja schon die faschistische Gefahr. Bis Ende 1932 war ich arbeitslos und hatte etwas mehr Zeit für politische Arbeit. Die Genossen in Frankfurt waren mir sehr behilflich. Um diese Zeit lernte ich den Genossen Walter Strüwe kennen, der im KPD-Bezirksvorstand Hessen aktiv war und Agitation und Propaganda machte. Später lebten wir zusammen. Ich arbeitete damals auch in der Bezirksleitung Hessen der KPD in Frankfurt mit, zusammen mit Eva Höhn, Lotte Diehm, Else Veit, Maria Moritz, später mit Franziska Kessel und anderen. Ich war überwiegend im Bezirksgebiet Hessen tätig, z.B. in Raunheim und Kelsterbach, auch im Odenwald, in Höchst und anderen Orten. Vorwiegend sprach ich dort über politische Tagesfragen, über Frauenprobleme und war bei Wahlen immer als Referentin im Lande Hessen eingesetzt.
Angesichts der drohenden Gefahr des Faschismus bereiteten wir uns auf eine illegale Zeit vor. Walter Strüwe übernahm – zusammen mit anderen – diese Arbeit und war als Instrukteur in Hessen tätig. Später wurde er Oberberater im Auftrag des Zentralkomitees der KPD im Raum Südwest. Ich selbst wurde, nachdem bereits Verhaftungen von Mitgliedern der Bezirksleitung Hessen der KPD erfolgten, Mitglied der illegalen Bezirksleitung der KPD Hessen. Weitere Mitglieder waren Lotte Diehm, Betty Wittmann, Georg Botta, Hans Jordan.
Meine illegale Arbeit begann unmittelbar nach dem 30. Januar 1933. Damals waren viele unserer Genossinnen und Genossen, die Funktionen im Landtag oder in Stadtparlamenten hatten, in großer Gefahr. Ich habe damals viel getan, sie unterzubringen. Gleichzeitig stellte ich Kontakte zu Personen her, die mit uns sympathisierten. Ostern 1933 wurde ich zum ersten Mal verhaftet. Um diese Zeit war auch Franziska Kessel bei einem illegalen Treffen verhaftet worden. Bei den verschiedenen Vernehmungen von Genossen ist wahrscheinlich auch mein Name aufgetaucht. Man unterstellte mir Kontakte zu Franziska Kessel und anderen – aber man konnte mir nichts beweisen, ich machte keine Aussagen. Nach sechs oder sieben Wochen Haft wurde ich wieder entlassen. In das gleiche Gefängnis kam, nachdem ich einige Tage dort war, auch Franziska Kessel. Von ihrem späteren Tod, sie wurde fast blind geschlagen und am 23. April 1934 ermordet, habe ich erst nach 1945 erfahren. Nach meiner Entlassung habe ich in Frankfurt wieder weiter gearbeitet. Walter Strüwe war damals schon im Zentralkomitee der KPD gewesen. Oft bin ich damals mit ihm gegangen und habe ihn abgeschirmt bei Zusammenkünften. Über seine Arbeit habe ich wenig erfahren, das war auch gut so. Meine illegale Arbeit machte ich weiter. Wir hatten nach den Verhaftungen schon Schwierigkeiten bei der Arbeit, aber nach einiger Zeit lief sie wieder. Mir gelang es auch Kontakte zu Arbeitern in der früheren SPD-Zeitung in Frankfurt, die von den Nazis übernommen worden war, herzustellen. Nach 1945 habe ich dann erfahren, dass Jordan für die Gestapo als Spitzel gearbeitet hat; er wurde deswegen auch angeklagt. Walter Strüwe, der gefährliche Aufgaben übernommen hatte war deshalb besonders gefährdet. Er musste noch vor dem Abschluss des von ihm mit initiierten Einheitsfrontabkommen emigrieren, etwa in der zweiten Hälfte des Jahres 1934. Um diese Zeit wurde er schon steckbrieflich gesucht. Obwohl das schon gefährlich war, habe ich ihn ein- oder zweimal im Saargebiet besucht. Er meinte damals, ich sollte eventuell auch emigrieren, das habe ich aber nicht akzeptiert, ich hielt meine Aufgabe in der Widerstandsarbeit für wichtiger und richtig. Später musste er nach England emigrieren und er hat dort, wie ich nach seiner Rückkehr 1947 erfahren habe, in der Gruppe der Kommunisten aktiv gearbeitet. Dort hat er sehr gefährliche Aufgaben übernommen und ist zum Beispiel mit dem Fallschirm über Deutschland abgesprungen. Für die Rückführung der Emigranten aus England habe ich mich später auch eingesetzt und dabei von dem bekannten Genossen Walter Fisch aus Frankfurt erfahren, dass Walter Strüwe in der Zwischenzeit geheiratet und einen Sohn hatte. Walter Strüwe kam 1947 aus England nach Frankfurt zurück, arbeitete dort wieder in der KPD Hessen und siedelte bald in die DDR über. Ich habe also in Hessen meine illegale Arbeit weitergemacht. Im September 1935 wurde ich von der Gestapo verhaftet. Man brachte mich in das Untersuchungsgefängnis Hammelgasse in Frankfurt, dann nach Preungesheim und später nach Kassel. Viele Male – ich weiß gar nicht mehr, wie viele das waren wurde ich Genossen gegenübergestellt. Oft kam ich auf Transport zu weiteren Vernehmungen. Immer war ich in diesen Monaten in Einzelhaft. Ich habe bei diesen Gegenüberstellungen keine Aussagen gemacht und habe nie einen meiner Genossen irgend- wie belastet. Was die Gestapo über mich wusste, hatte sie nur von dem bereits erwähnten Hans Jordan. Bei vielen Vernehmungen wurde ich immer als letzte vernommen. Man sagte: die ist gefährlich und unverbesserlich, deshalb nehmen wir sie als letzte vor. Ich weiß nicht mehr, wie viele Male ich vernommen wurde. Manchmal war ich in der Hammelgasse, dann wieder in Preungesheim und auch in der Lindenstraße, der Zentrale der Gestapo. Schließlich kam ich dann in das Untersuchungsgefängnis nach Kassel. In Kassel erhielt ich eine Anklageschrift, datiert am 19. November 1935. In der Anklage wird mir die Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens vorgeworfen. Da ich kaum Aussagen machte und immer von jemanden sprach, der mir unbekannt sei, enthielt die Anklage nur Anschuldigungen, die man bei vorausgegangenen Prozessen gegen Frankfurter Kommunisten wohl auch durch Aussagen von Jordan ermittelt hatte. Ich kam wieder auf Transport nach Frankfurt, weitere Vernehmungen und Drohungen musste ich durchstehen. Dann ging es wieder nach Kassel, und die Vernehmungen setzten sich fort mit fast unglaublichen Methoden. Ich war oft auf Transport und bei einer anderen Vernehmung durch die Gestapo sagte so einer zu mir, ich sei von Moskau eingesetzt vom Exekutivkomitee. Da habe ich gefragt, was das sei, ich wisse nicht, was so was sei. Da versuchte er mir zu erklären, was das sei. Darauf sagte ein anderer, der dabei war: „Du lässt dich aber von der schön auf den Arm nehmen.“ Am 7. Februar 1936 habe ich dann eine Nachtrags- Anklageschrift erhalten.
Hier ist eine Passage, die meines Erachtens nach deutlich macht, dass selbst die Staatsanwaltschaft, welche die Klage erhob, versteckt schon eine gewisse Hochachtung zum Ausdruck brachte und ich bin heute noch stolz darauf, dass man mir dabei Standhaftigkeit und Mut bestätigte:
„Ihre ganze persönliche Einsatzbereitschaft für die staatsfeindlichen Bestrebungen der KPD bewies sie in dem Zeitpunkt, in der Strüwe in Frankfurt a.M. der Boden zu heiß wurde und er die Flucht ergriff. Sie ließ sich nicht einschüchtern, sondern setzte unbeirrt die gefährliche Arbeit fort. Das Gleiche wiederholte sie, als zu Beginn des Jahres 1935 durch zahlreiche Festnahmen die Bezirksleitung in Frankfurt a.M. zerschlagen und insbesondere die Verbindung nach Berlin abgerissen war. In dieser kritischen Lage brachte sie, wie sie selbst zugibt, von sich aus den ZK-Kurier Griesbach mit dem Funktionär Botta zusammen und es gelang ihr, auf diesem Wege die Verbindung der neu errichteten Bezirksleitung Hessen-Frankfurt der KPD wieder herzustellen.“
Ich stand ganz allein vor den Richtern des Oberlandesgerichts in Kassel. Mir war zwar eine Verteidigerin zugeteilt worden, aber sie sagte nur, dass ich viele Jahre für die KPD gearbeitet hätte und das hätte mein Leben und mein Verhalten geprägt. Man verurteilte mich zu sechs Jahren und sechs Monaten Zuchthaus mit zehn Jahren „Ehrverlust“ und Polizeiaufsicht nach der Strafe. Von Kassel aus kam ich nach Aichach in Bayern, das war ein Frauen-Zuchthaus, in Einzelhaft. In der Zelle war anstelle eines Klosetts nur ein Kübel, den ich jeden Morgen entleeren musste. Es gab auch keine Wasserleitung. Das Fenster war hoch, ich hatte kaum Aussicht. Das Bett war tagsüber angeschlossen und der Tisch war fest an der Wand, man konnte also den Tisch nicht einmal ans Fenster stellen um wenigstens etwas zu sehen. Ich machte in der Zelle Näharbeiten mit der Hand. Das war eine eintönige Zeit, es gab ja nur einmal am Tag einen kurzen Spaziergang im Gefängnishof. Die Zuchthaus-Bibliothek taugte kaum etwas, man brachte jede Woche einmal ein Buch, das man sich aber nicht aussuchen konnte. Das Essen war sehr eintönig. Im Krieg, den ich ja auch noch im Zuchthaus erleben musste, war es sehr schlecht und die Gefangenen hungerten. Die einzige Freude, die ich hatte, waren Briefe von meinen Eltern, denen ich auch schreiben konnte, aber nur einmal im Monat, und die Post wurde zensiert.
Im Frühjahr 1939 wurde meine Einzelhaft in Aichach unterbrochen, ich kam auf Transport nach Stuttgart, um was es ging, wusste ich nicht. In Stuttgart wurde ich im Untersuchungsgefängnis, wieder in Einzelhaft, eingesperrt. Der Zweck meiner Überführung nach dort war folgender: Ich wurde im Prozess gegen die mir bekannte Genossin Maria Wiedmaier vernommen. Sie war wegen Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt. Der Richter warf mir vor, ich hätte in Frankfurt illegal mit ihr zusammen gearbeitet. Ich sagte, dass ich sie schon aus der Zeit vor 1933 gekannt habe und sie mich einmal besuchte, als sie über Frankfurt irgendwohin fuhr. Das bestätigte sie. Auch der in Frankfurt bekannte Genosse Karl Fehlinger wurde in diesem Prozess vernommen. Nach dem Prozess kamen Maria und ich zusammen auf Transport nach Aichach. Der Transport dauerte ein paar Tage. Wir hatten das Glück, im Waggon und in den Gefängniszellen unterwegs zusammen zu sein. Da wurde viel besprochen, Persönliches und Politisches und Erinnerungen ausgetauscht. Maria Wiedmaier kam nach ihrer Strafe in das Frauen-KZ Ravensbrück und hat dort hervorragende Arbeit in der illegalen Gruppe im Lager gemacht. Nach 1945 ging sie nach Berlin und heiratete den in der Widerstandsbewegung in Buchenwald bekannten Harry Kuhn, der die Selbstbefreiung dieses Lagers mit vorbereitete.
Nach Ausbruch des Krieges wurde Aichach immer mehr belegt mit Gefangenen.
Um 1940 kam ich in Gemeinschaftshaft. In einer kleinen Zelle lagen sechs Frauen, zwei mussten auf dem Boden schlafen. Unter den hygienischen Bedingungen im Zuchthaus war das für jede Gefangene eine Qual. Nach einiger Zeit kam ich, zusammen mit anderen, wieder auf Transport, diesmal in ein ganz altes Gefängnis im Elsass, ich weiß nicht mehr, wie es hieß. Unter uns waren viele Politische. Wir waren nur kurze Zeit im Elsass und kamen nach Aichach zurück. Der Grund für diese Rückführung war folgender: In der Bevölkerung des Ortes war bekannt geworden, dass unter den Häftlingen nun „politische“ waren. Es ist zu Sprechchören „Politische Gefangene raus!“ gekommen. Ich kam wieder in Gemeinschaftshaft nach Aichach. Es war schon Krieg und alles wurde immer schlechter und die Behandlung brutaler und verächtlicher. Ich erinnere mich an eine Inspektion, die der Direktor des Zuchthauses durchführte. An der Zellentür erklärte er zynisch: „Unsere Soldaten kämpfen draußen und euch müssen wir hier ernähren.“
Mitte 1941 wurde ich in das Zuchthaus Anrath verlegt; mit mir auch die Genossin Eva Höhn aus Frankfurt. Auf diesem Transport lernte ich auch die Genossin Berta Hirth kennen. In Anrath kam ich wieder in Einzelhaft bis zu meiner Entlassung im März 1942. In der Zelle musste ich wieder Näharbeit machen, diesmal bekam ich eine Nähmaschine. Täglich wurde die Arbeit an der Zellentür übergeben. Berta Hirth gab öfters zusammen mit der Aufseherin die Arbeit aus. Viele Male hat sie mich über den Verlauf des Krieges informiert, sie überbrachte Nachrichten, die sie in Erfahrung gebracht hatte, sie warf mir mal ein Bonbon in die Zelle, wenn es ging, sprach sie mit mir. So verhielt sie sich auch anderen „Politischen“ gegenüber. Berta Hirth war für mich und sicher auch für andere eine treue Kameradin, so etwas wie ein Engel im Zuchthaus.
Das Ende meiner langen Strafzeit kam näher; was kommen würde, war ungewiss.
Und dieser Tag kam dann im März 1942. Zur Überstellung an die Gestapo, wie Berta Hirth mir angekündigt hatte, kam ich auf Transport, ob es der letzte wäre, das war noch ungewiss. Sechs Jahre und sechs Monate Haftzeit hatte ich hinter mir, und wenn ich später darüber mal nachgedacht habe oder wenn ich deswegen gefragt wurde, dann wurde mir jedes Mal deutlich, dass ich mehr als 1800 Tage lang immer allein war. Ohne wesentliche Kontakte zu anderen – eine schlimme Zeit, die ich ertragen habe in dem Bewusstsein, für eine gute Sache gestritten zu haben.
In Frankfurt führte dann ein ziemlich junger Gestapo-Beamter in die Lindenstraße mit mir ein Gespräch. Ich war etwas verwundert über die Sprache, die er verwandte, sie war ganz anders als die jener Schergen der Gestapo, die ich ja so viele Male hören musste. Er hielt mir einen Vortrag darüber, dass die Lage jetzt ganz anders sei. Er redete vom Krieg, von den Bombenangriffen und darüber, dass es wenig zu essen gab und über anderes.
Eine solche Sprache war für mich wirklich neu. Er führte meine lange Strafe an, die ich hinter mir hätte, und meinte, ich sollte nun doch vorsichtig sein mit politischen Aussagen usw.
Dann erfuhr ich von ihm, dass mein Vater draußen sitzen würde, der mich mitnehmen würde. Er teilte mir mit, dass ich bei meinen Eltern wohnen müsse, ich dürfe nicht woanders wohnen. Er sagte dann noch, dass meine Eltern für mich bürgen müssten, das sei eine Auflage, die gemacht werde. Mein Vater nahm mich dann in seine Arme und wir fuhren miteinander nach Offenbach. Am anderen Tag noch musste ich mich sofort bei der Gestapo melden, die damals ihren Sitz in der Großen Kaisersstraße in Offenbach hatte. Dort war der Ton schon wieder etwas anders als ich auch schreiben konnte, aber ich musste jeden Morgen bei der Schuhfabrik Hassia anfangen zu arbeiten und mich jeden Tag bei ihm zu melden habe.
Ich hatte also noch nicht einmal einen oder mehrere Tage Zeit oder Ruhe mich in „der Freiheit“ einzuleben. Ich ging zur Firma Hassia, und die erste Frage, die mir der Betriebsleiter stellte, war, wo ich denn vorher gearbeitet hätte. Ich sagte ganz offen, dass ich 6 ½ Jahre politischer Häftling eingesperrt war. Ich sagte, dass ich als Kommunistin in Haft war, und er meinte dazu etwa, dass es früher solche und solche gegeben hätte, und meinte noch, dass ich nun mit der Arbeit beginnen sollte.
Der Anfang war natürlich nicht so leicht, aber ich muss sagen, dass mir die Kolleginnen sehr viel geholfen haben, damit ich mich einarbeiten konnte. Auch das war für mich natürlich sehr wohltuend gewesen. Ich muss sagen, dass ich sehr viel Sympathie im Betrieb hatte und das machte vieles leichter. Ich hatte auch bald einige Kontakte zu Genossen. Natürlich waren es nur lose Kontakte, denn alles andere wäre in dieser Zeit zu gefährlich gewesen für mich und die anderen.
Es war Krieg und die Luftangriffe auf Offenbach hatten ja furchtbare Auswirkungen.
Ich wusste, dass es mit dem Krieg nicht mehr lange dauern würde, das Einzige, was mich damals bewegte und beschäftigte, war wirklich nur das Kriegsende; die Lasten, die ich darunter zu tragen hatte, nun – ich habe es geschafft.
Und so kam das Ende. Am 26. März 1945 rückten die Amerikaner in Offenbach ein. Ich war wirklich überglücklich, eigentlich kann ich gar nicht beschreiben, was mich da so alles bewegte. Endlich frei vom Druck der Gestapo, weg von der Unsicherheit, die ja immer bestand, endlich, so hoffte ich, kann ich mein Leben wieder in die eigenen Hände nehmen. Bedrückt war ich aber trotzdem noch. Ich dachte an die vielen Freunde und Genossen, die noch in Haft waren, in einem KZ saßen. Was wird nun aus ihnen werden, wer kehrt überhaupt noch zurück, wenn das alles aus ist, denn für Offenbach war ja der Krieg vorbei, aber er war noch nicht zu Ende.
Eine Wohnung bekam ich damals rasch, dafür sorgten die Amerikaner, Offenbacher, die nun so langsam Verwaltungsaufgaben übernahmen. Antifaschisten wurden dafür genommen, soweit es möglich war. Es dauerte nicht lange, dann nahm ich Kontakt zu dem Genossen Christian Bauer in Sieber auf, er war auch eingesperrt gewesen. Auch mit Johannes Rossa, ein bekannter Genosse in Offenbach. Wir besprachen, wie wir die Partei wieder aufbauen werden. Obwohl noch Ausgangssperre war, bin ich nach Frankfurt gefahren und habe mit dem bekannten Kommunisten Luki Widmann Kontakt aufgenommen. Langsam wurden diese Verbindungen angebahnt, es kam z. B. Konrad von der Schmitt dazu, dem die Leitung des Arbeitsamtes übertragen wurde, später ging er in den Schuldienst. Ich war also für die Partei sofort wieder aktiv, der ich 1945 – mit der Jugendzeit – mehr als 22 Jahre angehörte und in der ich bis zum heutigen Tag geblieben bin.
Mit dem Ende des Krieges war auch der Tag der Freiheit für die Menschen gekommen, die in Offenbach als Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Zusammen mit anderen, die schon lange vorher Kontakte zu Zwangsarbeitern hatten, nahm ich Kontakt zu ihnen auf. Wir kümmerten uns um sie, wir halfen ihnen, wo es nur ging, und setzten uns für ihre Rückführung in ihre Heimat ein. Wir beschafften Kleider und Lebensmittel und anderes. Ihr Aufenthalt war nicht mehr lange in Offenbach und wir machten noch mit ihnen eine kleine Feier. Nie werde ich vergessen, wie dankbar diese Menschen waren, die ja hier unter unmenschlichen Bedingungen gelebt hatten.“
Hier endet das – hier stark gekürzte – Interview von Werner Geprägs mit Änne Salzmann.
Sie ging wie gewohnt den aufrechten Gang.
Bald nach der Befreiung wurde Änne Salzmann vom „Beratenden Ausschuss der Stadt Offenbach“, der von der Militärregierung aus unbelasteten Bürgern gebildet wurde, neben dem ehrenamtlichen Leiter, Rektor Hammerstein, als Geschäftsführerin für die am 4. August 1945 gegründete „Hilfe für Offenbach“ eingesetzt, das war eine Hilfseinrichtung, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die wenigen vorhandenen Bedarfsmittel des täglichen Lebens und vor allem die Hilfsgüter aus Amerika an besonders Bedürftige sowie an „naziverfolgte“ Bürger gerecht zu verteilen. Im Rahmen ihrer Sozialarbeit bei der ebenfalls unmittelbar nach Kriegsende eingerichteten „Betreuungsstelle für die politisch, rassisch und religiös verfolgten Opfer“ in Offenbach war sie deren Leiterin, bis zur Übernahme dieses Amtes durch Max Willner. Sie vertrat die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die sie mit gründete, in öffentlichen Bereichen.
Im Herbst 1945 war Änne Salzmann Mitbegründerin und später Vorsitzende des „Überparteilichen Offenbacher Frauenverbandes“, ein Zusammenschluss von Frauen, die sich, obwohl von unterschiedlicher politischer Parteizugehörigkeit und Denkrichtungen, zu einer gemeinsamen sozialen Zielsetzung vereint hatten. Der Verband organisierte Kleidersammlungen und die Verteilung an heimkehrende Kriegsgefangene und Bedürftige, richtete eine Wärmehalle ein. Mit Milchpulverspenden der amerikanischen Quäker wurden regelmäßige Speisungen für Schulkinder durchgeführt. Die Frauen halfen zur Linderung der Not in vielfältiger Weise.
Ein dunkles Kapitel der Nachkriegsgeschichte war der bald kuriose Blüten treibende Kalte Krieg mit der einhergehenden Kommunistenverfolgung. Änne Salzmann wurde trotz ihrer Verdienste und des großen Opfers, das sie in der Nazizeit gebracht hat, aus dem Frauenverband ausgeschlossen.
Von 1946 bis zu ihrer Pensionierung 1965 war Änne Salzmann im Sozialamt der Stadt Offenbach in der Fürsorge für TBC-Kranke tätig. Bei ihren Kolleginnen und Kollegen war sie stets angesehen und beliebt. Aber auch hier war sie als Kommunistin bedroht. Als 1956 die KPD verboten wurde, legte man ihr nahe, sie solle aus der Partei austreten. Dieses Ansinnen lehnte sie natürlich ab. Sie war gegen das Hitler-Regime ihrer Partei treu geblieben, warum sollte sie nun während der Adenauer-Regierung anders handeln? Sie ging wie gewohnt den aufrechten Gang. Dass es zu der angedrohten Entlassung nicht kam, ist dem Eintreten ihrer Kolleginnen und Kollegen, ihrer Gewerkschaft sowie dem Einspruch des Sozial-Dezernenten Stadtrat Ferdinand Winkel (SPD) zu verdanken.
Eine wichtige Aufgabe sahen Änne Salzmann und Karl Schild neben dem kompromisslosen Eintreten gegen alte und neue Nazis im Engagement in der Friedensbewegung. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt war ihre praktische Solidaritätsarbeit. Südafrika, El Salvador und Nicaragua sind nur einige der Länder, für deren ärmste Menschen sie mit unglaublicher Ausdauer Sach- und Geldspenden sammelten.
Vielfach wurde diese Frau, die stark im Leben stand, aber immer bescheiden und still nie von ihren Leistungen sprach, geehrt:
- 1978 wurde ihr die Ehrenmedaille der VVN-Bund der Antifaschisten verliehen.
- 1987 ehrte sie die Stadt Offenbach mit der Bürgermedaille in Silber.
- 1990 ehrte sie ihre Gewerkschaft für 70jährige aktive Mitgliedschaft mit der Hans-Böckler-Medaille.
- 1992 verlieh ihr die Stadt Frankfurt die Johanna-Kirchner-Medaille.
Zu Ehren von Änne Salzmann fand am 31. Oktober 2005 anlässlich ihres 100. Geburtstages eine Feierstunde im Offenbacher Rathaus statt. Weit über 100 Menschen aus vielen gesellschaftlichen Bereichen und Vertreter von Parteien, Organisationen und Gewerkschaften nahmen daran teil. In einer kleinen Fotoausstellung wurden zu diesem Anlass Aspekte ihres privaten und politischen Lebens dargestellt. Sie zeigen Änne als Jugendliche mit ihrer Familie, als junge Frau während der NS-Zeit, später an der Seite ihres Lebensgefährten Karl Schild beim Entspannen in ihrem Wohnwagen beim Naturfreundehaus „Günthersmühle“ oder auf einer ihren vielen Reisen, bei Demonstrationen gegen die Nazis oder bei Friedensdemonstrationen.